Die Rückkehr der Monolithen? – Eine differenzierte Betrachtung der deutschen Architektur-Debatte

Die Microservices-Revolution versprach alles: Skalierbarkeit, Agilität, unab­hän­gige Teams. Doch 2024/2025 zeigt sich in der deut­schen Tech-Landschaft ein komple­xe­res Bild. Während einige Teams ihre verteil­ten Architekturen hinter­fra­gen, setzen andere erfolg­reich auf Microservices. Die Wahrheit liegt – wie so oft – nicht in dogma­ti­schen Ansätzen, sondern in situa­ti­ons­ab­hän­gi­gen Entscheidungen.

Der Amazon-Fall: Ein Einzelbeispiel mit begrenzter Aussagekraft

Der viel­zi­tierte Fall von Amazon Prime Video, bei dem ein Team durch Konsolidierung einer server­less-Architektur zu einem Monolithen 90% Kosten einsparte, ist zwei­fel­los beein­dru­ckend. Doch Vorsicht vor vorschnel­len Verallgemeinerungen: Es handelt sich um eine sehr spezi­fi­sche Optimierung eines Video-Monitoring-Systems, das unter beson­de­ren Lastanforderungen litt.

Was oft über­se­hen wird: Tausende andere Teams bei Amazon setzen weiter­hin erfolg­reich auf Microservices. Der Fall zeigt eher, dass dogma­ti­sche Architekturentscheidungen – egal in welche Richtung – proble­ma­tisch sind. »Die rich­tige Architektur hängt vom Kontext ab«, betont Golo Roden von der native web GmbH, und trifft damit den Kern: Es gibt keine Einheitslösung.

Die deutsche Realität: Zwischen Erfolg und Ernüchterung

Die Datenlage zur Microservices-Adoption in Deutschland ist ambi­va­lent. Während die Capgemini Digital Architecture Study 2024 zeigt, dass 74% der Unternehmen mit föde­ra­len Governance-Strukturen zufrie­den sind, offen­bart die QAware Cloud Native Studie, dass nur 58% signi­fi­kante Vorteile durch Cloud-Native-Technologien sehen.

Aber: Diese Zahlen müssen diffe­ren­ziert betrach­tet werden. In Branchen wie FinTech und E‑Commerce berich­ten viele Unternehmen von erfolg­rei­chen Microservices-Implementierungen. Die LeanIX-Studie zeigt weiter­hin, dass 71% der befrag­ten Unternehmen ihre Microservices-Nutzung ausbauen wollen – aller­dings mit einem reife­ren, selek­ti­ve­ren Ansatz als noch vor Jahren.

Die Wahrheit ist: Beide Architekturen haben ihre Berechtigung, und der Erfolg hängt mehr von der Implementierungsqualität als vom gewähl­ten Paradigma ab.

Modulare Monolithen: Ein pragmatischer Mittelweg

Die in der Branche disku­tier­ten Kosteneinsparungen durch modu­lare Monolithen vari­ie­ren stark und sind hoch­gra­dig kontext­ab­hän­gig. Statt pauscha­ler Prozentangaben ist eine diffe­ren­zierte Betrachtung notwen­dig:

  • Kurzfristig können Monolithen güns­ti­ger sein (weni­ger Infrastruktur, einfa­che­res Deployment)
  • Langfristig können Microservices bei wach­sen­den Teams und sich ändern­den Anforderungen flexi­bler sein
  • Total Cost of Ownership (TCO) muss Faktoren wie Time-to-Market, Skalierbarkeit und Wartbarkeit einbe­zie­hen

Spring Modulith und ähnli­che Frameworks bieten einen evolu­tio­nä­ren Pfad: Start als Monolith, schritt­weise Extraktion wo sinn­voll. Dieser Ansatz ist weni­ger eine »deut­sche Eigenart« als viel­mehr eine prag­ma­ti­sche Reaktion auf struk­tu­relle Herausforderungen wie Fachkräftemangel und begrenzte Ressourcen.

Die »10-Entwickler-Regel«: Heuristik, nicht Gesetz

Die häufig zitierte Schwelle von »10 Entwicklern für Microservices« ist eine grobe Faustregel, kein empi­risch fundier­tes Gesetz. Die Realität ist nuan­cier­ter:

  • Kleine Teams (< 5) profi­tie­ren selten von der Komplexität verteil­ter Systeme
  • Mittlere Teams (5–15) müssen Kosten und Nutzen sorg­fäl­tig abwä­gen
  • Große Teams (> 15) können von klaren Service-Grenzen profi­tie­ren – wenn die Organisation stimmt

Entscheidender als die Teamgröße sind Faktoren wie:

  • Technische Kompetenz im Umgang mit verteil­ten Systemen
  • Qualität der DevOps-Praktiken und des Toolings
  • Klarheit der fach­li­chen Domänengrenzen
  • Anforderungen an unab­hän­gige Skalierbarkeit und Deployment

Deutsche Unternehmen im Spannungsfeld

Erfolgsgeschichte Deutsche Telekom

Die Telekom zeigt, dass Microservices in großen Organisationen funk­tio­nie­ren können. Ihre Access 4.0 Plattform redu­zierte Deployment-Zeiten von 12+ Monaten auf Wochen. Aber: Dies erfor­derte massive Investitionen in Tooling, Schulung und orga­ni­sa­to­ri­sche Transformation.

N26: Skalierung mit Kosten

Die Berliner Neobank betreibt erfolg­reich 230 Microservices, redu­zierte Deployment-Zeiten von 90 auf 30 Minuten.
Der Preis: Hochspezialisierte Teams, komplexe Infrastruktur und konti­nu­ier­li­che Investitionen in Platform Engineering. Für N26 mit ihrem Wachstumskurs macht das Sinn – für einen regio­na­len Mittelständler wäre es Overengineering.

SAP: Evolution statt Revolution

SAP’s schritt­weise Migration zeigt einen drit­ten Weg: Selektive Modernisierung kriti­scher Komponenten bei Beibehaltung stabi­ler Kernmodule. Diese hybride Strategie respek­tiert bestehende Investitionen und mini­miert Risiken.

Developer Experience: Das eigentliche Problem

Die Stack Overflow Umfrage 2024 iden­ti­fi­ziert tech­ni­sche Schulden als Hauptfrustration für 62,4% der Entwickler.
Aber: Diese Schulden entste­hen nicht durch Microservices per se, sondern durch:

  • Unklare Architekturentscheidungen ohne Kontext
  • Mangelnde Investition in Developer Tooling
  • Fehlende Kompetenzen im Umgang mit verteil­ten Systemen
  • Übereilte Technologieentscheidungen ohne Migrationsplan

»If you can’t build a well-struc­tu­red mono­lith, what makes you think you can build well-struc­tu­red micro­ser­vices?« – Diese provo­kante Frage eines Delivery Hero Teamleiters trifft den Punkt: Architekturkompetenz ist wich­ti­ger als das gewählte Paradigma.

2025: Die Post-Dogma-Ära

Die Zukunft gehört weder Monolithen noch Microservices, sondern anwen­dungs­fall­ba­sier­ten Architekturen. Internationale Trends zeigen:

Selektive Service-Extraktion wird Standard

Unternehmen welt­weit extra­hie­ren nur noch Services, die klaren Geschäftswert durch Isolation bieten. Der »Microservices-first«-Ansatz weicht einem »Monolith-first, Extract-when-needed«-Paradigma.

Platform Engineering als Enabler

Die Komplexität von Microservices wird durch bessere Plattformen abstra­hiert. Internal Developer Platforms (IDPs) wie Backstage (Spotify), Humanitec oder Port machen verteilte Systeme hand­hab­ba­rer, indem sie Self-Service-Portale für Entwickler bereit­stel­len. Diese Tools stan­dar­di­sie­ren Deployment-Prozesse, auto­ma­ti­sie­ren Infrastruktur-Provisionierung und redu­zie­ren kogni­tive Last – erfor­dern aber erheb­li­che Vorabinvestitionen.

AI-gestützte Architekturentscheidungen

KI-Tools helfen bei der Identifikation opti­ma­ler Service-Grenzen und warnen vor Overengineering. Die Entscheidung bleibt mensch­lich, wird aber daten­ge­stützt.

Entscheidungsmatrix statt Dogma

Für deut­sche Unternehmen empfiehlt sich folgende Entscheidungsheuristik:

Favorisiere Monolithen/Modulithen wenn:

  • Team < 10 Entwickler
  • Klare, stabile Domäne
  • Begrenzte DevOps-Ressourcen
  • Time-to-Market kritisch
  • Einheitliche Technologie-Stack

Erwäge Microservices wenn:

  • Unabhängige Skalierbarkeit erfor­der­lich
  • Heterogene Technologien notwen­dig
  • Teams > 15 Entwickler
  • Klare Domänengrenzen
  • Reife DevOps-Praktiken vorhan­den

Hybride Ansätze wenn:

  • Schrittweise Modernisierung erfor­der­lich
  • Unterschiedliche Anforderungen pro Komponente
  • Risikomininierung wich­tig

Das ungelöste Dilemma

Die Architektur-Debatte spie­gelt tiefere Zielkonflikte wider:

  • Produktivität vs. Skalierbarkeit: Monolithen ermög­li­chen schnel­lere Entwicklung, Microservices bessere Skalierung
  • Einfachheit vs. Flexibilität: Simple Architekturen sind wart­ba­rer, verteilte flexi­bler
  • Stabilität vs. Innovation: Bewährte Ansätze sind siche­rer, neue verspre­chen Wettbewerbsvorteile

Diese Konflikte lassen sich nicht auflö­sen – sie müssen für jeden spezi­fi­schen Anwendungsfall neu ausba­lan­ciert werden.

Fazit: Reife statt Revolution

Die »Rückkehr zu Monolithen« ist keine Kehrtwende, sondern Zeichen einer reifen­den Industrie. Nach Jahren dogma­ti­scher Debatten setzt sich die Erkenntnis durch: Es gibt keine univer­sell beste Architektur.

Deutsche Unternehmen stehen vor der Herausforderung, zwischen Legacy-Last und Innovationsdruck zu navi­gie­ren. Die Lösung liegt nicht in neuen Paradigmen, sondern in:

  • Situationsgerechten Entscheidungen statt Architektur-Dogmen
  • Evolutionären Ansätzen statt Big-Bang-Migrationen
  • Investitionen in Architekturkompetenz statt über­mä­ßi­ges Vertrauen auf Tooling
  • Ehrlicher Evaluation der eige­nen Capabilities

Die Zukunft gehört Teams, die kontext­sen­si­bel entschei­den, konti­nu­ier­lich dazu­ler­nen und Architekturen als evol­vie­rende Systeme verste­hen – nicht als einma­lige Weichenstellungen.

Was wie eine Rückkehr zu Monolithen wirkt, ist in Wahrheit ein Fortschritt zu reife­rem Architekturdenken

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